Die Chemie im Wandel der Zeit
(industrietreff) - Zahllose Artikel haben - so weit ich zurückdenken kann - diese oder ähnlich lautende Überschriften getragen - und dies mit Berechtigung. Selbst wenn man nur einen so kurzen Zeitabschnitt wie etwa die letzten 30 Jahre beleuchtet, wird man erkennen, dass die chemische Industrie fundamentale Veränderungen erfahren und gemeistert hat. Ein Blick zurück im Zeitraffer:
Nordamerika und Europa dominieren die Branche
Im Verlauf der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Petrochemie der Treiber der chemischen Industrie, zurückzuführen auf die Förderung reichhaltiger Öl- und Gasvorkommen in Nordamerika und im Nahen Osten. Es entwickelte sich daraus eine Großchemie, die die Verarbeitung über Cracker und nachgeschaltete Verbundanlagen zu integrierten Chemiekomplexen ausbaute. Kennzeichnend war dabei eine hohe Fertigungstiefe mit mehrstufigen Wertschöpfungsketten. Zu den wichtigsten Marktteilnehmern gehörten die Chemiedivisionen von Erdölunternehmen wie Shell Chemicals und Exxon-Mobil Chemicals und Chemiekonzerne wie Dow, DuPont, BASF, Bayer und Hoechst. Die Tore zu diesen großen Verarbeitern von Naphtha und Cra¬ckerprodukten waren Houston und Rotterdam. Das Geschäft verlief relativ unspektakulär. Man arbeitete mit stabilen, mehrmonatig gültigen Kontraktpreisen.
Der Nahe Osten kommt ins Spiel
Während in den 70er Jahren ca. 2/3 der Produktion von Petrochemikalien und Kunststoffen in USA und Westeu¬ropa lagen, änderte sich das Bild im Laufe der nächsten Dekade grundle¬gend. Die Saudis und Kuwaitis u.a. beschränkten sich nun nicht mehr auf die Förderung und den Export von Rohöl, sondern bauten eigene Kapazitäten für die Weiterverarbeitung ihres „schwarzen Goldes“ auf. So entstanden beispielsweise riesige Anlagen für die Herstellung von Poly¬olefinen. So konnten die neuen Anbieter nicht nur vom preiswerten Rohstoff profitierten, sondern auch über die „economies of scale““ weitere Kostenvorteile erzielen. Dies hat zu einer deutlichen Verschie¬bung der internationalen Warenströme geführt. Was bisher aus den USA bzw. Europa in die parallel entstehenden neuen Absatzmärkte in Fernost, allen voran China, geliefert wurde, kam zuneh¬mend aus dem Nahen Osten - und Europa und USA blieben auf ihren Produktionskapazitäten sitzen. Wenn sie vormals die Rolle von weltweit agierenden Exporteuren einnahmen, so begann sich ihre Zukunft eher auf die Rolle regionaler Akteure zu beschränken. Mit der Folge, dass in Europa und den USA kleine, unrentable Cracker stillgelegt wurden und neue Partnerschaften, Firmenzusammenschlüsse und Joint-Ventures entstan¬den. Der Konzentrationsprozess bei den Herstellern von Grundchemikalien war unaufhaltsam angestoßen.
Der Mergerismus beginnt
Mit dem Beginn der 90er Jahre wurde ein weiterer Wendepunkt in der Chemiebranche eingeläutet. Was nun begann war ein weltweiter Prozess von Firmenumbauten, Teilverkäufen, Fusionen, Konsolidierungen etc., was zu einer unüberschaubaren Anzahl neuer Firmen führte. Das vormals klassische Organisationsmodell eines integrierten Chemiekonzerns wurde vielfach aufgegeben. Die Herstellung von Grundchemikalien wurde abgespalten von den daraus produzierten Veredelungsprodukten wie Pharmazeutika, Feinchemikalien, Kunstharzen, Lebensmitteladditiven usw. Auf jeder Verarbeitungsstufe und in jeder Branche entstanden - und entstehen heute immer noch - neue Firmenkonstruktionen. Die wirklich gro¬ßen Akteure der Bran¬che agieren global, auch wenn sie ihren Firmensitz in Europa oder in den USA haben.
Ein weiterer Treiber kam hinzu, der diesen Prozess ungemein beschleu¬nigte: der Eintritt der „Finanzwelt“ in die historisch naturwissenschaftlich geprägte „Chemiewelt“. Getrieben vom Shareholder-Value Gedanken wurden alte Strukturen (in den Köpfen und in den Produktionsketten) aufgebrochen und neue Firmengebilde zusammengebaut. Investmentbanker und Berater füllten ihre Taschen, das M&A-Geschäft blühte. Der Begriff „strategische Neuausrichtung“ , der vielfach benutzt wurde, um Veränderungen zu argumentieren, hätte sicher die Chance gehabt, einmal zum Wort (bzw. Un¬wort) des Jahres gekürt zu werden.
Schiefergas-Fracking in Nordamerika - Fluch oder Segen?
Verfolgt man die aktuellen Themen der Chemiebranche, so steht derzeit ein Thema ganz oben in der Hitliste: Schiefergas als neue, äußerst preiswerte Rohstoffquelle für die Petrochemie.
Die Erkundung und Förderung von Schiefergas wird derzeit lediglich in Nordamerika in großem Umfang betrieben. In Europa hat man sich bisher im Wesentlichen auf die wissenschaftliche Untersuchung möglicher Vorkommen beschränkt. In Polen wird von ersten, kleineren Bohrungen berichtet.
Der Fluch lastet wohlmöglich auf der umstrittenen Methode der Förderung. Das Gas ist in kilometertief unter der Erde liegenden Schiefervorkommen gebunden. Um es an die Oberfläche zu fördern, muss das Schiefergestein aufgebrochen werden. Dazu werden Bohrungen bis in das Gestein gesetzt und anschließend wird unter hohem Druck ein Gemisch aus Wasser, einer körnigen Substanz (Sand) und Chemikalien in das Bohrloch gepumpt. Das gebundene Gas wird freigesetzt und gefördert. Mit dieser „Fracking-Methode“, kommt kontaminiertes Abwasser an die Oberfläche zurück, es ver¬bleibt aber auch ungereinigtes Wasser in den Bohrstätten unter der Erde. Mögliche Auswirkungen aus umweltpolitischer Sicht sind nicht hinreichend erforscht und werden daher kontrovers diskutiert.
Der Segen für die Amerikaner liegt darin, die amerikanische Chemieindustrie mit deutlich kostengünstigerem Rohstoff zu versorgen und zugleich deren Abhängigkeit von importiertem Rohöl und Erdgas zu verringern. Insofern hat das Gas-Fracking nicht nur eine wirtschaftliche sondern auch eine politische Komponente. In USA wird bereits von einer Renaissance der heimischen Petrochemie gesprochen. Man sehnt sich zurück in die Zeiten, in denen Wachstumsimpulse für den heimischen Markt von eigenen kostengünstigen Rohstoffen ausgingen und in denen Exporte von Che¬mieprodukten die Handelsbilanz aufbesser¬ten.
Wenn es denn so kommt, dass die US-amerikanische Petrochemie durch den Schiefergasboom in die Lage versetzt wird, signifikante Kostenvorteile zu erzielen, ist es wahrscheinlich, dass sich die Warenströme der bedeutenden Petrochemicals und Kunststoffe, die um den Globus ziehen, erneut ändern.
Auswirkungen auf die chemische Industrie in Europa?
Auf den ersten Blick sind es eher düstere Aussichten für die Produktionsstandorte der europäischen, insbesondere der deutschen chemische Industrie. Unsere Unternehmen sind derzeit bereits konfrontiert mit den Bürden der Energiewende, die der Wirtschaft von der Politik beschert wurden. Mit dem Wettbewerbsvorteil amerikanischer Chemieprodukte würde die chemische Industrie Europas doppelt herausgefordert.
Auf je¬den Fall ist zu erwarten, dass die europäische Ethylen-Chemie mit ihrem komplexen Downstream-Portfolio und der nachgeschalteten Spezialitätenchemie in den nächsten Jahren kräftig durchgeschüttelt wird.
Noch drastischer hat es kürzlich der Chairman von INEOS, einem der weltgrößten Chemiekonzerne, in einem offenen Brief an den Präsidenten der EU-Kommission formuliert. Er befürchtet ein Verschwinden großer Teile der europäischen Chemieindustrie, eine Deindustrialisierung, innerhalb der nächsten 10 Jahre mit nachhaltigen negativen Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeitsmärkte. Er fragt sogar nach politischen Maßnahmen, um die europäische Chemieindustrie vor dem globalen Wettbewerb zu schützen. Aufgerüttelt durch die jüngsten Ereignisse in der Ukraine, hat auch die Politik die hohe Abhängigkeit der westeuropäischen Wirtschaft von russischem Gas erkannt und spricht vom Umdenken in der Energie- (und Rohstoff-)politik. Öffnet sich Europa vielleicht doch noch für ein kontrolliertes Fracking?
Die zukünftigen Erfolgsaussichten der europäischen Chemieindustrie werden vermutlich nicht nur von den Veränderungen im Rohstoffsektor bestimmt, sondern davon, ob es gelingt, den eingeschlagenen Weg der Spezialisierung weiter auszubauen, neue Materialien zu entwickeln, sich durch Innovation zu differenzieren und auf diesem Wege für die Märkte der Welt attraktiv zu bleiben. Bis dahin wird das ein oder andere Unternehmen in Europa die Härte des globalen Wettbewerbs bitter zu spüren bekommen.
Nichts ist so beständig wie der Wandel
Wenn diese Erkenntnis des alten Heraklit für eine Branche zutrifft, dann für die Chemie.
Wir sind derzeit Zeugen eines neuen, spannenden Abschnitts in der Geschichte der chemischen Industrie. Keiner weiß mit Bestimmtheit was sich genau verändert. Aber eines ist sicher: die Chemie ist eine Branche, die sich ständig im Wandel befindet. Insofern wird die Überschrift über einem sol¬chen Artikel auch in 10 Jahren noch richtig sein.
Heinrich Klüwer, Partner der Barfeld & Partner GmbH
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Die Barfeld & Partner GmbH konzentriert ihre Beratungstätigkeit auf die gezielte Suche von Führungskräften und hochkarätigen Spezialisten. Die Durchführung von Intergrationscoachings und Management-Audits runden das Geschäftsfeld der Personalberatung ab. Ein weite¬rer Schwerpunkt ist die Vermittlung von mittelständischen Unternehmen und Beteiligungen im Rahmen einer M&A-Beratung. Die Sozietät steht den Unternehmen der Chemie- und Energiewirtschaft seit über 30 Jahren als Branchenspezialist zur Verfügung.
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Datum: 10.04.2014 - 17:08 Uhr
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