Die Besten fliehen ins Ausland
(industrietreff) - Bonn/Düsseldorf – Lebenslänglich Deutschland – hierzu sind aus den unterschiedlichsten Gründen viele mittelständische Unternehmen und auch viele nicht sehr gut qualifizierte Arbeitskräfte, die dann schnell zu Arbeitslosen werden, in Deutschland verurteilt. Für die mobilen Eliten und wissenschaftlichen Spitzenkräfte in Deutschland gilt diese Regel nicht. „Die Besten gehen“: Diese These vertritt Hermann Kühnle in einem Aufsatz für den Sammelband „Konjunktur der Köpfe? Eliten in der modernen Wissensgesellschaft“, der von Günther Rüther im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung http://www.kas.de herausgegeben wird. Kühnles These: Die tatsächlichen Zahlen bei der Abwanderung der Höchstqualifizierten müssten in unserem Land eigentlich „schrillen Alarm“ auslösen. Nicht nur Wissenschaftler kehren der hiesigen Stagnation den Rücken zu. Auch Krankenschwestern, Gastronome, Ärzte und Handwerker „wissen längst, dass man in anderen Ländern Europas besser bezahlt wird“. „Erst kommt der Zorn, dann die Abwanderung“, so lautet Kühnles Diagnose. Und in der Tat kann man in Uni-Mensen, Seminarräumen oder in verrauchten Studentenkneipen immer öfter zumindest spielerische Überlegungen darüber hören, ob man nicht „auswandern“ soll. Bei allen Patriotismus-Appellen: Viele junge Menschen sind der Meinung, dass zu großer Loyalität gegenüber ihrem Land dann kein Anlass mehr besteht, wenn diese Land ihnen keine Zukunftsperspektive mehr bietet.
Sehr gute Abschlüsse, zahlreiche Praktika und mühsam aufgebaute Kontakte spielen oft keine Rolle. Viele junge Leute, die ihren Studienabschluss oder Doktortitel in der Tasche haben, machen dann erst mal die frustrierende Erfahrung, dass für sie keine adäquate Verwendung besteht. Der selbständige Rechtsanwalt mit Taxilizenz ist keine Seltenheit mehr. Jeder siebente Student in speziellen Technologiebranchen, der in Deutschland promoviert wird, entscheidet sich anders: Er wandert in die Vereinigten Staaten aus. Die USA versammeln die besten Köpfe aus der ganzen Welt in ihrem Land. Jeder dritte ausländische postdoc und jeder fünfte Professor in den Naturwissenschaften kommt aus Deutschland. Nicht alle deutschen Unis sind schlechter als die amerikanischen, doch Kühnle gibt zu bedenken: „Die Vereinigten Staaten verfügen über eine Reihe solcher Zentren, an denen auch flexible Karrieremöglichkeiten, ausgeprägtes Entrepreneurklima und hohe Leistungsqualität anzutreffen sind, weshalb sich unter anderem 60 Prozent der DFG geförderten deutschen Auslandsstipendiaten für einen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten entscheiden.“
Die Verstaatlichung und Durchbürokratisierung unserer Universitäten sind nicht die einzigen Ursachen für diese Misere. Es spielen auch psychologische Dinge mit. Deutschland leistet sich immer noch den Luxus, einem verzerrten Bild seiner Leistungseliten zu huldigen: „So ist die European Economic Advisory Group mit ihren neun renommierten europäischen Wirtschaftswissenschaftlern einig, dass Deutschland dringend gegenlenken, die Besteuerung von Spitzeneinkommen neu bewerten und die Hürden für Unternehmertum drastisch verringern müsse.(...)Junge, kreative, dynamische Wissenschaftler kehren der Bundesrepublik zunehmend den Rücken. Sie finden anderswo bessere Bedingungen – und mehr gesellschaftliche Anerkennung.“ Michael Müller, Wirtschaftssenator im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) http://www.bvmwonline.de und Geschäftsführer der a & o after sales & onsite services GmbH in Neuss http://www.ao-services.de, stimmt Kühnles These zu: „Man muss sich ja nur einen ganz normalen Krimi am Feierabend anschauen. Unternehmer werden häufig als schmierige und halbkriminelle Figuren dargestellt. Dass Wohlstand oder Reichtum in der Regel auf täglicher harter Arbeit basieren, verschweigen die Drehbücher gerne. Elternhäuser, Schulen und die Öffentlichkeit tun nicht genug, um den Wert der Leistung und die Freude am Unternehmerischen und am Machen zu verdeutlichen.“
Die Gründe für die deutschen Schwierigkeiten und die Unzufriedenheit der jungen Menschen mit dem Potenzial zur Führungskraft sind bekannt: Zu unbewegliche Berufsbilder, zu starre Organisationen und Arbeitsbedingungen, bisweilen auch satte, wenig experimentierfreudige Führungskräfte, eine zu staatsnahe Gesellschaft mit einer zu hohen Staatsquote und die eingefahrenen Konsensmechanismen in Staat und Gesellschaft, diese besonders gefühlige Form des deutschen „Kuschelkapitalismus“. Kühnle, im Brotberuf Professor für Fabrikbetrieb und Produktionssysteme in Magdeburg, listet sie alle auf. Und er legt den Finger in die Wunde: „Übergeordnetes Bewusstsein für Qualität, Spitzenleistung, internationale Konkurrenzfähigkeit und damit einher gehende fachbezogene Konzentration wird von den etablierten Interessengruppen kaum ausreichend honoriert. Hoch im Kurs dagegen stehen Angepasstheit, die Unter- und Einordnung in Zielsetzungen von Interessengruppen, Verbänden und anderen Non Government Organisationen. Belohnt wird Konsens und Bewahrung.“ In vielen entscheidenden Gremien und Positionen säßen zu „viele Bedenkenträger und kaum Innovatoren oder unternehmerische Denker“.
Die Lösung – so Kühnles Schlussfolgerung – liegt in der Abwendung von Vater Staat. Deutschland braucht eine privat-wirtschaftlich organisierte und wettbewerbsgetriebene Forschungslandschaft. Der Autor weist auf ein signifikantes Beispiel für die Impotenz der deutschen und europäischen Forschungspolitik hin: „US-Ökonomen führen beispielsweise Aufstieg und Vormachtstellung ihrer Biotech-Industrie verwundert zu einem beträchtlichen Anteil auf den europäischen Talentzustrom an ihre Forschungszentren zurück.“ Die deutsche akademische Elite wird aufgrund der Organisation der hiesigen Universitäten aber eher zu Muckertum und Angepasstheit abgerichtet. Die Schere im Kopf entscheidet darüber, was man schreiben und forschen darf und soll. Der allmächtige Ordinarius, dem man zum Kritiker oder zur Konkurrenz wird, könnte ja den eigenen akademischen Werdegang torpedieren. Kühnle findet es erschreckend, dass zu wenig deutsche Universitätsabsolventen den Weg in die berufliche Selbständigkeit oft gar nicht auf dem Zettel haben. Das Denken findet in starren Strukturen statt: Student, Doktorand, Privatdozent, Professor. Und ist das letzte Ziel erst mal erreicht, so die Meinung von Kritikern, kann man sich entspannt zurücklehnen und die eigene Publikationstätigkeit und Lehrtätigkeit reduzieren.
So müssen beide Seiten etwas tun. Die deutschen Uni-Absolventen müssen flexibler werden und nicht immer auf den Staat schauen. Unternehmensgründung als Ziel darf kein Tabu sein. Und die Universitäten müssen attraktiver werden, auch wenn man in Bielefeld oder Chemnitz nicht Kalifornien simulieren kann. Der akademische Raum darf sich vor allem nicht mehr gegenüber der Wirtschaft abschotten. Fließende Übergänge von universitären und betrieblichen Strukturen erscheinen dem Verfasser sinnvoll. In eine ähnliche Richtung argumentierte jüngst Mario Ohoven, der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft (BVMW) http://www.bvmwonline.de, bei einem Vortrag an der Universität Marburg. Von einer engen Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft profitierten beide Seiten. Wie die Oberhessische Presse http://www.op-marburg.de berichtet, plädierte Ohoven für eine gleichzeitige Breiten- und Elitenförderung und das Ende der alten Neiddebatten gegenüber den Leistungsträgern. Als konkreten Schritt, um die deutsche Bildungsblockade aufzubrechen, regte er eine Abschaffung der Kulturhoheit der Länder an. Die Zuständigkeiten für Bildung sollten unter einem bundeseinheitlichen Dach gebündelt werden.
Kühnle formuliert eine Vision, die verstärkte deutsche Anstrengungen verheißungsvoll macht: „Gelänge in Deutschland der Aufbau privater, exzellenter Forschungszentren, gegebenenfalls auch in Zusammenarbeit mit öffentlichen Strukturen, so könnte der ‚Brain-Drain‘ rasch zu einer ‚Brain-Circulation‘ werden, so die klare Erkenntnis der Hauptnutznießer des derzeitigen Zustandes; US-Experten jedenfalls treibt infolge der starken Abhängigkeit der US-Spitzenforschung von stetiger Qualifiziertenzuwanderung ernsthaft die Sorge um, Deutschland könnte auf diesem Wege rasch beträchtliche Anteile der abgewanderten Talente wiedergewinnen und empfehlen gar flankierende Maßnahmen.“
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Datum: 10.11.2004 - 16:22 Uhr
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