Pharmakonzerne stoppen Entwicklung von Antibiotika
(ots) - Obwohl die zunehmende Ausbreitung resistenter
Keime als eine der größten globalen Gefahren gesehen wird, stoppen
Pharmaunternehmen die Forschung an neuen Antibiotika. Das zeigen
Recherchen des NDR. Dem Sender bestätigte nun auch der größte
Gesundheitskonzern der Welt, die Firma Johnson & Johnson, dass sich
derzeit bei ihnen "keine weiteren Antibiotika in der Entwicklung"
befänden.
Zuletzt hatten sich die Branchenriesen Novartis und Sanofi 2018
sowie AstraZeneca Ende 2016 aus der Antibiotikaforschung
verabschiedet. Dabei hatte der Internationale Pharmaverband (IFPMA)
erst 2016 eine "Industrie-Allianz" ("AMR Industry Alliance") zum
Kampf gegen die Resistenzen gegründet. Etwa 100 Unternehmen, darunter
Johnson & Johnson, Novartis, Sanofi und AstraZeneca, hatten eine
gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Darin sagten sie unter anderem
zu, in die Forschung in diesem Bereich zu investieren.
Die Recherchen des NDR zeigen, dass fast die Hälfte der Firmen,
die unterzeichnet und damals zu Antibiotika geforscht haben,
mittlerweile nicht mehr in dem Bereich aktiv ist. Die Großkonzerne
Pfizer und Allergan entwickeln nach Einschätzung von
Branchen-Insidern ebenfalls keine neuen Antibiotika-Wirkstoffe,
obwohl auch sie Mitglieder der "AMR Industry Alliance" sind. Auf
Anfrage des NDR antwortete Allergan allgemein, es forsche weiter zur
Behandlung von Infektionskrankheiten. Auf Nachfrage, ob dies
tatsächlich neue Antibiotika umfasse, hat das Unternehmen nicht mehr
geantwortet. Pfizer verwies wiederholt auf ein Studienprogramm zu
einer Kombination aus zwei Präparaten, die beide allerdings schon
seit längerem eingesetzt werden - also keine Neuentwicklungen sind.
Neben den großen Konzernen haben auch viele kleine und
mittelständische Unternehmen die Erklärung 2016 unterzeichnet. Etwa
50 von ihnen forschten damals an neuen Antibiotika-Wirkstoffen. Doch
mehr als 20 dieser Firmen haben die Forschung in diesem Bereich
aufgegeben oder sind mittlerweile insolvent. Viele der kleineren
Unternehmen haben damit zu kämpfen, dass sich Investoren
zurückziehen.
Die Entwicklung eines neuen Antibiotikums kostet mehrere Hundert
Millionen Euro. Bei einer erfolgreichen Zulassung des Mittels kommen
die Ausgaben für Herstellung, Vertrieb und Vermarktung hinzu. Kleine
Unternehmen, die keine zusätzlichen Einnahmen etwa durch lukrative
Arzneimittel aus anderen Bereichen haben, können diese Kosten in der
Regel allein nicht stemmen. Auch deshalb ist es aus Sicht vieler
internationaler Experten fatal, wenn sich die großen Konzerne
zurückziehen.
Bis in die 1990erJahre hatten noch fast alle großen Pharmakonzerne
Antibiotika entwickelt. Einige wie Bayer, Bristol-Myers Squibb oder
Eli Lilly haben sich bereits vor mehr als zehn Jahren aus diesem
Bereich zurückgezogen. Somit scheinen derzeit nur vier der 25 größten
Pharmaunternehmen der Welt überhaupt noch an der Entwicklung neuer
Antibiotika zu arbeiten, nämlich die Firmen MSD, GlaxoSmithKline,
Otsuka und Roche in seiner Tochterfirma Genentech. Konkrete Fragen
des NDR zu ihrem Engagement, etwa zur Zahl der in diesem Bereich
beschäftigten Wissenschaftler oder zur Höhe der Investments, haben
sie aber nicht beantwortet.
Der Grund für den Rückzug der großen Pharmakonzerne aus diesem
Bereich sind offenbar wirtschaftliche Erwägungen. Mit Antibiotika
lässt sich deutlich weniger Geld verdienen als beispielsweise mit
Krebsmedikamenten oder Mitteln gegen chronische Erkrankungen. Denn
Antibiotika werden in der Regel nur wenige Tage lang eingesetzt.
Zudem sollten neue Mittel nur im Notfall eingesetzt werden, wenn alle
herkömmlichen Antibiotika nicht mehr anschlagen. Sie sollen also als
Reserve zurückgehalten werden, damit sie ihre Wirkung nicht so
schnell verlieren.
Der Ausstieg der großen Konzerne sei "nicht verantwortungsvoll",
sagt Ursula Theuretzbacher im Interview mit der NDR-Sendung
"Panorama" im Ersten. Theuretzbacher arbeitet als unabhängige
Beraterin zur Entwicklung von Antibiotika unter anderem für die
Weltgesundheitsorganisation WHO. "Für mich ist absolut klar, dass die
Pharmaindustrie eine Verantwortung für die Gesellschaft hat", sagt
Theuretzbacher, die sollte auch eingefordert werden. Letztlich würden
große Teile ihrer Profite darauf beruhen, dass es Antibiotika gebe.
Beispielsweise können viele teure Krebsmedikamente nur eingesetzt
werden, wenn auch wirksame Antibiotika zur Verfügung stehen, da bei
den Patientinnen und Patienten ein sehr hohes Infektionsrisiko
besteht.
Er wehre sich dagegen zu sagen, die Pharmaindustrie sei schuld,
sagt dagegen Thomas Cueni, Generaldirektor des IFPMA und Vorsitzender
der "AMR Industry Alliance". Es gebe zurzeit einfach keinen Markt für
Antibiotika. Er kenne keine Firma, die gegenüber ihren Eignern
verantworten könne, in Bereiche zu investieren, wo es ein sehr hohes
Risiko gebe, dass die Forschung nicht erfolgreich sei - und falls
doch, kriege man kein Geld dafür, sagt Cueni. Er sei sich aber sehr
wohl bewusst, dass der Eindruck, die Industrie melde sich ab, nicht
gut für das Industrie-Image sei. "Und der ist schon gar nicht gut für
uns alle, die letztlich neue Antibiotika brauchen", sagte Cueni im
"Panorama"-Interview.
Die vorhandenen Mittel verlieren zunehmend ihre Wirkung, da sich
resistente Keime ausbreiten. Es sei eines "der Probleme unseres
Jahrhunderts, wo wir uns wirklich mehr engagieren müssen", sagt Peter
Beyer von der WHO. Auch die Vereinten Nationen rufen dazu auf, in die
Forschung zu investieren. Sonst würden "zukünftige Generationen mit
den katastrophalen Folgen einer unkontrollierten Antibiotikaresistenz
konfrontiert sein". Die Entwicklung neuer Medikamente dauert in der
Regel mindestens zehn bis 15 Jahre.
Die Resistenzen gelten neben dem Klimawandel als eine der größten
globalen Gefahren. An den Folgen von Infektionen mit resistenten
Keimen sterben derzeit in der Europäischen Union jedes Jahr etwa
33.000 Menschen, weltweit sind es Hunderttausende. Die Vereinten
Nationen warnen, dass die Todeszahlen in die Höhe schnellen, falls
nicht sofort gehandelt werde. Demnach könnten durch resistente Keime
bis 2050 jedes Jahr zehn Millionen Menschen sterben, das wären mehr
als heute an Krebs.
Mehr zu dem Thema am Donnerstag, 12. September, um 21.45 Uhr in
"Panorama" im Ersten sowie unter www.NDR.de/antibiotika. Dort finden
Sie ab dem 12. September um 17.00 Uhr auch die Sendung "Panorama -
die Reporter" mit dem Thema "Das Ende der Antibiotika?" sowohl auf
Deutsch als auch auf Englisch. Im NDR Fernsehen ist diese Sendung am
Dienstag, 17. September, um 21.15 Uhr in der deutschen Fassung zu
sehen.
Pressekontakt:
Norddeutscher Rundfunk
Iris Bents
Presse und Information
Tel.: 040 / 4156-2304
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Datum: 12.09.2019 - 06:00 Uhr
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