Unterschätzt: Was uns schon der Schrei eines Säuglings über diverse Störungsbilder sagen kann
(ots) - Immer wieder geschieht es, dass Kinder offensichtlich viele
Jahre ein Entwicklungsproblem mit sich herumtragen, dieses aber offenbar schwer
zu fassen ist. Die Diagnose, dass das betroffene Kind an einer angeborenen
genetischen Abweichung leidet, folgt dann eventuell erst im Schulalter. Dies
kann zu Entwicklungsstörungen bei den Kindern führen. Dazu gehören Fehlbildungen
der Artikulationsorgane, frühkindliche neurologische Störungen oder
Hörstörungen. Ein sich gerade in der Entwicklung befindliches Analyseverfahren
könnte den Leidensweg der Betroffenen und ihrer Angehörigen abkürzen: Die
Analyse des Säuglingsschreis.
Ein Forschungsprojekt der Hochschule Fresenius zum Säuglingsschrei hat
vielversprechende Ergebnisse erzielt, die künftig eine frühzeitige Feststellung
solcher Störungen ermöglichen könnte. "Mithilfe eines speziellen technischen
Verfahrens ist es uns erstmals gelungen, nicht nur gesunde von pathologischen
Schreien zu unterscheiden, sondern letztere auch einem bestimmten Störungsbild
zuzuordnen", sagt Prof. Dr. Tanja Fuhr, die gemeinsam mit Prof. Dr. Carla
Wegener an dem Projekt geforscht hat. Beide sind an der Hochschule Fresenius in
Idstein tätig. "Die Trefferquote lag dabei bei über 99 Prozent, ein wirklich
herausragendes Ergebnis."
Gemeinsam mit Partnerinstitutionen haben die Forscherinnen 72 Säuglinge mit
pathologischem Schreibild untersucht. Nach Aufnahme des Schreis geben im Rahmen
des Analyseverfahrens bestimmte akustische Parameter Hinweise auf Störungen, die
mittels Dataminingverfahren die entsprechende Klassifizierung vornehmen. Die
Prozesse laufen weitgehend automatisiert ab. Dieses Verfahren wurde konkret mit
Kindern, die ein zu weiches Knorpelgewebe am Kehlkopf, eine Hörstörung, eine
Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder einen Sauerstoffmangel während des
Geburtsvorgangs aufwiesen, erprobt.
Der Schrei ist Teil des Spracherwerbs und eines der neuromuskulär am höchsten
auflösenden Systeme in den ersten Monaten im Säuglingsalter. Schon zu Beginn des
Lebens wirken hier viele Muskeln und Hirnnerven in einer Art Symbiose der
Verarbeitung zusammen. Kaum ein anderes System im Körper ist zu diesem Zeitpunkt
schon so weit entwickelt wie die Stimmgebung - und kaum ein anderes deshalb so
gut für die Erkennung bestimmter Phänomene geeignet.
"Der nächste Schritt wäre nun die Validierung unserer Ergebnisse, um daraus eine
Allgemeingültigkeit abzuleiten. Dies könnte als Grundlage für Diagnoseverfahren
dienen, damit wir sie flächendeckend etwa in Kliniken und Kinderarztpraxen
einsetzen können", so Fuhr. Der technische Aufwand wäre extrem gering: Schon ein
Smartphone mit einer entsprechenden App würde ausreichen.
Diese Validierung ist allerdings die große Herausforderung: "Wir bräuchten eine
große Probandenzahl pro Störungsbild", berichtet Prof. Dr. Carla Wegener. "Und
es handelt sich zum einen um seltene Störungen, zum anderen haben Eltern bei
deren Auftreten erst einmal andere Sorgen. An dieser Stelle müssen wir viel
Aufklärungsarbeit leisten, denn unsere Untersuchungen sind harmlos. Wir erzeugen
ja keinen Schrei, sondern nehmen diesen nur auf. Die Risiko-Nutzen-Analyse gibt
also eigentlich eine klare Antwort."
Das menschliche Ohr ist dem technischen Verfahren übrigens klar unterlegen, auch
das haben die Wissenschaftlerinnen herausgefunden: Ganz unterschiedliche
Personengruppen durchliefen ein Hörtraining, darunter Eltern, Erwachsene ohne
Kinder sowie Hebammen mit teilweise langer Berufserfahrung. Zwar kommen alle
Gruppen relativ schnell auf den gleichen Hörlevel und in 89 Prozent der Fälle
konnten sie in dem Versuch auch gesunde von pathologischen Schreien
unterscheiden. Bei der Zuordnung zum richtigen Störungsbild blieb der Erfolg
gegenüber dem technischen Verfahren jedoch deutlich zurück: Hier lag die Quote
nur noch bei 64 Prozent.
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Datum: 21.11.2019 - 08:00 Uhr
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