IndustrieTreff - Risikobewertung - Verunsicherung über PVC-Weichmacher in der EU

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Risikobewertung - Verunsicherung über PVC-Weichmacher in der EU

ID: 22630

(industrietreff) - Von Edgar Gärtner

Bonn/Brüssel - Das von der EU Ende 2005 ausgesprochene Verbot von sechs Phthalaten in Baby-Spielzeug beeinflusst auch die Risikobewertung von PVC-Anwendungen in Medizinprodukten. Im April dieses Jahres veröffentlichte die EU-Kommission endlich drei von insgesamt fünf seit den 90er Jahren bei Instituten verschiedener EU-Mitgliedsstaaten erarbeiteten Risikobewertungen von Phthalaten auf der Basis der EU-Altstoffrichtlinie 793/93/EWG im Amtsblatt der EU (C90/04). Darunter befand sich zum einen Di-butyl-phthalat (DBP), das als „fortpflanzungsgefährdend der Kategorie 2“ eingestuft wird. Dieses Phthalat wird ohnehin nur in sehr geringen Mengen eingesetzt. Dagegen sind die beiden anderen Phthalate, die Gegenstand der Risikobewertungen waren, seit der Jahrtausendwende zu den am häufigsten verwendeten Weichmachern in PVC-Produkten wie Kabeln, Fußbodenbelägen, Planen, Folien, Regenbekleidung, Verpackungen und Spielsachen geworden. Es handelt sich um Di-isononyl-phthalat (DINP) und Di-isodecyl-phthalat (DIDP), die den bisherigen Standardweichmacher Di(2-ethylhexyl)-phthalat (DEHP) entthront haben.

Gerade DINP hat in einer 2003 vom EU Joint Research Institute (IRC) in Ispra/Italien veröffentlichten Risk Assessment Report der auf einer seit 1995 von drei französischen Instituten erarbeiteten Risikoabschätzung beruht, beste Noten erhalten. Es heißt dort: “The end products containing DINP (clothes, building materials, toys and baby equipment) and the sources of exposure (car and public transport interiors, food and food packaging) are unlikely to pose a risk for consumers (adults, infants and newborns) following inhalation, skin contact and ingestion.” Das hat das Europäische Parlament und den EU-Rat nicht davon abgehalten, auch diesen Weichmacher in das am 14. Dezember 2005 durch die 22. Änderung der Richtlinie 76/769/EWG ausgesprochene Verbot der Verwendung von Phthalaten in Kleinkinder-Spielzeug und Babyartikeln einzubeziehen.





Ausgelöst wurde die Konfusion durch eine emotionale Kampagne der Organisation Greenpeace in den 90er Jahren. Darin ging es nicht um DINP, sondern fast ausschließlich um DEHP. Dieses wurde mit verkümmerten Penissen und anderen Missbildungen in Zusammenhang gebracht und galt geradezu als Prototyp einer hormonell wirksamen Chemikalie. DEHP stand ursprünglich auch im Mittelpunkt des nun ab Januar 2007 geltenden Phthalatverbots in Babyartikeln, dem insgesamt 19 provisorische Verbote vorausgingen. Neben DEHP, das längst nicht mehr in Spielsachen verwendet wird, stehen aber auch DBP und BBP sowie DINP und DIDP auf der Verbotsliste, was einer Sippenhaft gleichkommt. Schließlich wird in der Liste auch Di-n-octylphthalat (DNOP) aufgeführt, obwohl es schon seit über einem Jahrzehnt gar nicht mehr produziert wird.

DEHP war schon in den 80er Jahren in Verruf geraten, weil es von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Zeitlang aufgrund voreilig interpretierter Rattenexperimente als möglicherweise Leberkrebs auslösend eingestuft worden war. Nachdem diese Fehleinschätzung korrigiert war, konnten G.W. Wolfe und K.A. Layton im Jahre 2003 den Verdacht, DEHP beeinträchtige die Fortpflanzung, durch Rattenexperimente erhärten. In Mehrgenerationen-Studien zeigten männliche Ratten der zweiten Generation ein deutlich niedrigeres Hodengewicht, eine verringerte Spermienzahl, fortbestehende Milchleisten usw. Auf der Basis dieser Befunde, über deren Ursachenkette es bislang nur Vermutungen gibt, ermittelte Wolfe einen NOAEL (No Oberserved Adverse Effect Level) von 4,8 Milligramm je Kilogramm Körpergewicht. Daraus lässt sich für den Menschen ein TDI (Tolerable Daily Intake) von 48 Mikrogramm je Kilogramm Körpergewicht am Tag ableiten.

Wie die Auswertung von Urinproben zeigt, wird dieser Vorsorge-Grenzwert im Allgemeinen problemlos eingehalten. Das gilt aber nicht für Risikogruppen wie künstlich ernährte Frühgeborene oder Dialysepatienten, die mithilfe von Weich-PVC-Schläuchen mit einem DEHP-Anteil von bis zu 50 Prozent versorgt werden. Da sich DEHP als lipophile Substanz leicht im Blut löst, können bei der Blutwäsche beträchtliche Mengen des Weichmachers in das Blut übertreten. Dialysepatienten können über die Jahre leicht einen halben Liter DEHP aufnehmen. Ob das negative Auswirkungen auf ihren Organismus hat, lässt sich wegen ihrer im Schnitt noch immer kurzen Lebenserwartung aber nicht ermitteln. Viel problematischer erscheint der DEHP-Einsatz in Infusions- und Intubationsbestecken für die Versorgung von Frühchen oder in gastrointestinalen Sonden für die enterale Ernährung von Kleinkindern. Diese kommen mit der vermutlich hormonell aktiven Substanz zu einem Zeitpunkt in Berührung, an dem ihre Geschlechtsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist.

Ausgerechnet bei solchen PVC-Anwendungen konnte DEHP aber nicht durch das günstigere DINP ersetzt werden, da dieses nicht die dort geltenden Anforderungen an die Flexibilität und Tieftemperaturzähigkeit erfüllt. Insbesondere in Blutbeuteln erwies sich Weich-PVC aber als alternativlos, da es als einziger Kunststoff so haltbar verschweißt werden kann, dass die Nähte dem Zentrifugieren und dem Einfrieren standhalten. Nicht zuletzt verhindert PVC die Blutgerinnung an den Beutelwänden und verlängert so die Haltbarkeit von Blutkonserven beträchtlich. Deshalb hat auch das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn noch im Mai dieses Jahres lediglich Risikominimierungsmaßnahmen wie bessere Kennzeichnungen und Gebrauchsanweisungen für DEHP-haltige Artikel sowie verstärkte Anstrengungen zur Entwicklung risikoärmerer Weichmacher gleichwertiger Qualität für besonders belastete Patientengruppen, aber keinen Verzicht auf PVC in Medizinprodukten empfohlen.

Inzwischen gibt es für diese sensiblen Anwendungen erste gut untersuchte Alternativen zu DEHP. In Deutschland hat die BASF in Ludwigshafen seit 1997 gezielt nach einem Molekül gesucht, das DEHP so weit ähnelt, dass es ohne aufwändige Verfahrensumstellungen als DEHP-Ersatz verwendet werden kann. Dabei kamen die Forscher darauf, die Phthalsäure mit ihrem verdächtigen planaren aromatischen Kohlenstoffring durch das sesselförmige Cyclohexan zu ersetzen. Das Ergebnis war Di-isononylcyclohexan-1,2-dicarboxylat (DINCH). Es zeichnet sich gegenüber DEHP durch eine etwa achtmal geringere Migrationsrate aus, ist aber nur unwesentlich teurer. Als einziger ernst zu nehmender Konkurrent gilt derzeit der US-Konzern Eastman, der Di(2-ethylhexyl)terephthalat (DEHTP) anbietet.

In Deutschland ist DINCH bereits für den Nahrungsmittelkontakt zugelassen. Die Anerkennung durch die EU-Agentur für Nahrungsmittelsicherheit (EFSA) in Parma/Italien steht bevor. Bislang hat aber nur ein Hersteller von Magensonden (Pfrimmer-Nutricia) seine Produkte auf DINCH umgestellt. Die andern zögern, da es noch immer keine Evidenz für adverse Effekte von DEHP beim Menschen gibt. Dagegen wird der Einsatz von DINCH infolge des Phthalatverbots in Baby-Spielsachen nun in der Spielwarenindustrie zum Standard. Nach Aussage von Dr. Friedrich Seitz, BASF-Geschäftsführer Lösemittel und Weichmacher Europa, konnten die 5 Millionen Euro, die für die Entwicklung und toxikologische Prüfung von DINCH aufgewendet wurden, bislang aber noch nicht erwirtschaftet werden.
















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Datum: 07.09.2006 - 12:33 Uhr
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